Donnerstag, 15. Mai 2014

Postwendend

In jüngster Zeit hat sich, verstärkt durch immer weniger subtile Tendenzen der massenmedialen Einflüsterung eine Gegenöffentlichkeit, eine digitale Front gegen Gleichschaltung gebildet.
Sie opponiert jenem Extremismus der Mitte, der stellvertretend für eine neoliberale Neordnung der Gesellschaft, für einen affirmativen Elitenjournalismus und einen neuen, präsidial verordneten Militarismus steht. Diese digitale Front repräsentiert dessen Gegenstück: eine nicht-extremistische Querfront.

So vereint sie Linksliberale und Rechtslibertäre, die eine orwell'sche Umlackierung des Freiheitsbegriffes ablehnen, sie zieht Anarchisten, Pazifisten und Nationalisten gleichermaßen an. Diese neue Querfront ist keine Liebesheirat, es ist, das wissen alle, die in und durch sie wirken, eine Ehe auf Zeit.

Ihr gemeinsames Ziel ist kein Nationalbolschewismus, wie gerne unterstellt wird. Wenn es ein gemeinsames Ziel überhaupt gibt, dann geht es den sie nutzenden Kräften in Anbetracht der Machtfülle großkoalitionär gestützter Transatlantikernetzwerke ums eigene Überleben. Denn diese  marginalisieren die Wirkbreite gesellschaftlicher Gegenentwürfe unter einer bleiernen Decke eingehämmerter, scheinbarer "Alternativlosigkeit".

Wenn Partikularinteressen aus unterschiedlichen Enden des Spektrums überlappen, heißt dies ja nicht, dass alle diese überlappenden Interessen und jegliche Protagonisten dadurch automatisch deligitimiert werden, sehr wohl aber gilt es vorsichtig zu sein und genau hinzuschauen.

Anarcho-Syndikalisten lehnen beispielsweise die von Elitennetzwerken propagierte und ihren Lohnschreibern herbeigebetete Leistungsgesellschaft ab, in der die sog. "Sachzwänge des Kapitals" dem Menschen sein Dahinvegitieren diktieren, anstatt die Nöte und Talente des Menschen als Ausgangspunkt einer Delegation der Produktionsmittel zur Linderung und Kultivierung jener heranzuziehen.

Die Pazifisten widersetzen sich der gewünschten Militarisierung, kritisieren eine erneute Hochrüstung, das Aufeinanderhetzen ganzer Bevölkerungsgruppen und das Weggucken und -ducken unser Politiker bezüglich der Unterstützung oder auch nur Tolerierung menschenverachtender Gruppen die z.B. in der Ukrainer in den Reihen "unserer Verbündeten" mitwirken.

Linksliberale wollen eine freie Presse, ein Ende totalitärer Überwachung. Ebenso Rechtslibertäre, die zwar eine andere Wirtschaftsordnung fordern, aber ebensowenig Interesse daran haben in einem, ihre persönliche Freiheit nach und nach einschränkenden, gleichschaltenden Faschismus aufzuwachen.

Die Nationalisten allerdings, die die immer deutlicher zutage tretende mangelnde Souveränität Deutschlands als Motiv dafür haben, der Querfront zuzuarbeiten, sind in dieser Gleichung die große, gefährliche, weil potentiell von den alten Eliten hochzücht- und manipulierbare Unbekannte.

Größtenteils dem Präkariat und dem nach und nach aufgeriebenen Kleinbürgertum entstammend, haben sie nie ein internationalistisches Klassenbewußtsein etabliert, aber wollen ihre Perspektivlosigkeit und ihre Abstiegsängste - größtenteils jenen neoliberalen, durch sie unbeeinflußbaren ökonomischen Prozessen geschuldet - durch eine Fokussierung auf eine Rückbesinnung, "Neugründung" eines souveränen Nationalstaats kompensieren.
Angefixt vom "'Schland" des Jahres 2006 denken sie kurz, viel zu kurz, ahnen aber, voller Wut im Bauch, die Fremdbestimmung und stellen eine nicht zu vernachlässigbare Größe des Widerstandes gegen Gleichschaltung dar, die früher oder später entweder ein kritisches, revolutionäres Klassenbewußtsein entwickeln wird, oder aber sich wieder, in alter faschistischer Tradition einlullen läßt, in der Hatz auf neue Sündenböcke, wie z.B. Russen, Hartzler, Internationalisten oder Homosexuelle.

"Mit dem Feuer spielt man nicht, man kommt darin um!" trifft also in diesen Tagen des Mais 2014 Tucholskys "Nie wieder Krieg" - und im Hintergrund blubbert leise die Mahnung jenes Frosches, der bei lebendigem Leibe gekocht wird, weil er nicht irgendwann aus dem langsam immer stärker erhitzten Kessel gesprungen ist und es gewagt hat, sich aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit zu befreien.

All diese skizzierten gesellschaftlichen Umbrüche vollziehen sich nicht nur hierzulande auf digitaler Ebene, sondern in der Ukraine, ganz konkret auch auf der Straße.

Während die ukrainischen Kommunisten aus der Rada geschmissen werden, versuchen sich sich russische Marxisten in der Analyse der anfänglichen Selbstorganisation der "Donezker Volksrepublik" und den daraus folgenden gesellschaftspolitischen Konstellationen.

Der Text ist recht interessant, obwohl sehr dogmatisch formuliert und trotz der Tatsache, dass die hier zum Beispiel ganz gut erläuterten Motive der Oligarchen zu kurz kommen, zeigt er doch, welche geschichtlichen Prozesse, jenseits von Geld und Hegemonen auch (mit)wirken könnten...


 Drei Minuten Gehör!

Drei Minuten Gehör will ich von euch, die ihr arbeitet!
Von euch, die ihr den Hammer schwingt,
von euch die ihr auf Krücken hinkt,
von euch, die ihr die Feder führt,
von euch die ihr die Kessel schürt,
von euch, die mit den treuen Händen
dem Manne ihre Liebe spenden
von euch den Jungen und den Alten:
Ihr sollt drei Minuten innehalten.
Wir sind ja nicht unter Kriegsgewinnern.
Wir wollen uns einmal erinnern.

Die erste Minute gehöre dem Mann.
Wer trat vor Jahren in Feldgrau an?
Zu Hause die Kinder - zu Hause weint Mutter ...
Ihr: feldgraues Kanonenfutter-!
Ihr zogt in den lehmigen Ackergraben.
Da saht ihr keinen Fürstenknaben:
der soff sich einen in der Etappe
und ging mit den Damen in die Klappe.
Ihr wurdet geschliffen. Ihr wurdet gedrillt.
Wart ihr noch Gottes Ebenbild?
In der Kaserne - im Schilderhaus
wart ihr niedriger als die schmutzigste Laus.
Der Offizier war eine Perle,
aber ihr wart nur "Kerle"!
Ein elender Schieß- und Grüßautomat.
"Sie Schwein! Hände an die Hosennaht!"
Verwundete mochten sie sich krümmen und biegen:
kam ein Prinz, dann hattet ihr stramm zuliegen.
Und noch im Massengrab wart ihr Schweine:
Die Offiziere lagen alleine!
Ihr wart des Todes billige Ware...
So ging das vier lange blutige Jahre.
Erinnert ihr Euch?

Die zweite Minute gehört der Frau.
wem wurden zu Haus die Haare grau?
Wer schreckte, wenn der Tag vorbei
in den Nächten auf mit einem Schrei?
Wer ist es vier Jahre hindurch gewesen,
der anstand in langen Polonäsen,
indessen Prinzessinnen und ihre Gatten
alles, alles, alles hatten?
Wem schrieben sie einen kurzen Brief,
daß wieder einer in Flandern schlief?
Dazu ein Formular mit zwei Zetteln...
wer mußte hier um die Renten betteln?
Tränen und Krämpfe und wildes Schrein.
Er hatte Ruhe ihr wart allein.
Oder sie schickten ihn, hinkend am Knüppel
euch in die Arme zurück als Krüppel.
So sah sie aus, die wunderbare
große Zeit - vier lange Jahre...
Erinnert ihr euch?

Die dritte Minute gehört den Jungen!
Euch haben sie nicht in die Jacken gezwungen!
Ihr wart noch frei! Ihr seid heute frei!
Sorgt dafür, daß es immer so sei!
An euch hängt die Hoffnung. An euch das Vertrauen
von Millionen deutschen Männern und Frauen.
Ihr sollt nicht stramm stehen. Ihr sollt nicht dienen!
Ihr sollt frei sein! Zeigt es Ihnen!
Und wenn sie euch kommen und drohen mit Pistolen:
Geht nicht! Sie sollen euch erst mal holen!
Keine Wehrpflicht!
Keine Soldaten!
Keine Monokel-Potentaten!
Keine Orden! Keine Spaliere!
Keine Reserveoffiziere!
Ihr seid die Zukunft!
Euer das Land!
Schüttelt es ab, das Knechtschaftsband!
Wenn ihr nur wollt, seid ihr alle frei!
Euer Wille geschehe! Seid nicht dabei!
Wenn ihr nur wollt: bei euch steht der Sieg!
- Nie wieder Krieg -

Kurt Tucholsky (1923)


Musik hilft: Hanns Eisler vertonte Kurt Tucholsky

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